„Wir müssen schlauer sein als Krebs und das ist nicht so schwer.“
Michael Hallek ist als Krebsforscher und als Arzt tätig. Anlässlich des fünften Jubiläums des Vision Zero e.V., Unterstützer der Nationalen Dekade gegen Krebs seit der ersten Stunde, spricht er mit uns über das Engagement des Vereins, über Erfolge der Nationalen Dekade gegen Krebs und über Fortschritte in der Krebsforschung durch KI und neue Therapieformen.

Fünf Jahre Vision Zero e.V.: Was konnten Sie mit dem Verein erreichen?
Eine ganze Menge! Wir haben alle wesentlichen Stakeholder im Bereich Krebs zusammengebracht – von der Gesundheitswirtschaft über Krankenhäuser und Patientenverbände bis hin zu Industrie und Forschungseinrichtungen. Gemeinsam haben wir überlegt, wie wir die Entstehung von Krebs verhindern und die Behandlung verbessern können, um Krebs so weit wie möglich zurückdrängen. Krebs ist durch unsere Arbeit stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt und wir haben gezeigt, dass man Tabus überwinden kann. Das ist auch der Zusammenarbeit mit Initiativen wie der Nationalen Dekade gegen Krebs und der Deutschen Krebshilfe zu verdanken. Handlungsbedarf besteht beispielsweise weiterhin noch bei Rauchen und der HPV-Impfungen. Die HPV-Vakzine sollten stärker in Erziehungsstrukturen integriert und in der Breite bekannter gemacht werden, damit die Impfquoten hochgehen.
Die „Vision Zero“ hat das Ziel, jeden unnötigen Krebstod zu verhindern. Wie gut kommt der Verein in diesem Bestreben voran?
Zunächst zur Einordnung: Die Krebs-Sterberate kann nie null sein. Bei dieser Erkrankung des älteren Menschen lässt sich leider nicht vollständig verhindern, dass sie im hohen Alter zum Tod führen kann. Die Sterblichkeit der Krebserkrankungen nimmt Jahr für Jahr ein wenig ab, während gleichzeitig die Inzidenz immer noch etwas zunimmt. Wir sind Teil einer Bewegung, die dazu beitragen soll, dass die Schere zwischen Neudiagnosen und tödlichen Verläufen immer weiter aufgeht - also immer weniger Menschen an Krebs versterben. Hier machen wir langsam Fortschritte. Durch bessere Präventionsmaßnahmen verschiebt sich die Krebsdiagnose ins höhere Alter. Durch die Anti-Raucher-Kampagnen geht der Tabakkonsum zurück und die Lungenkrebszahlen sinken langsam, auch in Deutschland. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Übergewicht ist als Risikofaktor für Krebserkrankungen auf dem Vormarsch. Wir müssen aufpassen, dass die Arbeit, die wir investiert haben, um Tabak zurückzudrängen, nicht durch Übergewicht neutralisiert wird.
In der Nationalen Dekade gegen Krebs sind Sie Mitglied im Strategiekreis und Themenpate in der Arbeitsgruppe „Große ungelöste Fragen in der Krebsforschung“. Welche Erfolge konnten im Rahmen der Dekade verbucht werden?
Für mich persönlich ist der größte Erfolg, dass wir ein klinisches Forschungsprogramm im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) auf den Weg gebracht haben. Es gibt sechs große Standorte, die die klinische Forschung in Deutschland voranbringen und neue Produkte „made in Germany“ mit eigenen Erfindungen und Entdeckungen herstellen. Ein solches Programm ist einmalig in Deutschland. Ein weiteres wichtiges Thema ist die intensive Beteiligung von Patientinnen und Patienten in allen Gremien. In der Nationalen Dekade gegen Krebs und im NCT ist dies zu einer neuen Kultur geworden. Als persönlichen Erfolg empfinde ich ebenfalls, dass das Thema „Wissen generierende Versorgung“ auf der Agenda der Nationalen Dekade gegen Krebs steht. Es bedeutet, aus der Versorgung heraus zu lernen, indem man neue Medikamente und deren Wirkung dokumentiert. Dass dieses Thema lebt, ist mir besonders wichtig, weil ich den Begriff mitentwickelt habe. Wir haben in der Arbeitsgruppe „Ungelöste Fragen der Krebsforschung“ interessante Projekte aktiviert, zum Beispiel zur Erforschung des Zusammenhangs von Mikrobiom und Immuntherapien. Wie sich all das auf die Überlebenszahlen oder Krankheitsraten auswirkt, kann man jetzt noch nicht messen. Das werden wir später kritisch hinterfragen müssen.
Patientenbeteiligung in der Forschung ist seit Beginn ein Kernthema der Dekade. Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit der Einbindung von Betroffenen in die Forschung gemacht?
Die wesentlichen Forschungsfragen werden immer mit Patientinnen und Patienten diskutiert, um bessere Fragestellungen zu erarbeiten und sie in die Forschung einzubeziehen. Das bedeutet, dass wir jetzt Studienprotokolle oder wissenschaftliche Projekte schreiben und dabei regelhaft und verpflichtend Patientinnen und Patienten beteiligen. Das erfordert eine gewisse Ausbildung in beide Richtungen. Wir Forschenden müssen lernen, laiengerecht und verständlich zu formulieren, was manchmal gar nicht so einfach ist. Die Patientinnen und Patienten wiederum brauchen Kenntnisse über Prinzipien der Statistik und der Forschung, wofür wir eigene Akademien und Fortbildungen eingerichtet haben. Wichtig ist, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen und die Erfahrung von Patientinnen und Patienten in der Durchführung von Studien einbeziehen können. Bei der Relevanz von Nebenwirkungen beispielsweise sind Forschende Laien, weil sie diese nie selbst ertragen mussten. Diese Befruchtung in der Forschung findet jetzt statt und ich persönlich glaube, dass wir dadurch wesentlich bessere Studien durchführen und relevantere Fragestellungen definieren können. Offen gestanden hoffe ich auch, dass uns die Beteiligung von Patientinnen und Patienten hilft, die überbordende Bürokratie bei der Aktivierung von wissenschaftlichen Projekten und klinischen Studien zu reduzieren, da sie letztlich in Form von Langsamkeit und Verzögerung des Studienbeginns den Patienten schadet.
Rasante Entwicklung in der Onkologie: Wo sehen Sie die nächsten großen Durchbrüche in Diagnose und Therapie?
Die Fortschritte in der Immuntherapie bieten neue Hoffnung, selbst bei schwer behandelbaren Erkrankungen wie Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich erwarte mir davon sehr viel. Ein weiteres revolutionäres Werkzeug in der Forschung ist die Künstliche Intelligenz, die uns ermöglicht, riesige Datensätze zu analysieren. Aus Tausenden von Patientendaten mit unterschiedlichen Verläufen können wir Muster isolieren, die uns helfen zu verstehen, warum bestimmte Merkmale zu erfolgreichen Behandlungen führen, während andere scheitern. Wir können nachvollziehen, warum manche Patienten lange Krankheitsverläufe haben oder die Krankheit erst im hohen Alter auftritt, während sie bei anderen bereits in jungen Jahren ausbricht. Für mich ist das derzeit die größte und atemberaubendste Innovation. Beispielsweise kann man bereits aus Gewebsschnitten erkennen, welche molekularen Veränderungen im Krebs stecken.
Krebs gilt als eine „intelligente“ Krankheit. Wie schaffen wir es durch die Bündelung der Kräfte in der Krebsforschung, wie z. B. im One NCT, dem Krebs auf den Fersen zu bleiben und ihn in die Defensive zu drängen?
Die Bündelung der Kräfte in Forschungszentren und -strukturen ist von herausragender Bedeutung. Die Vernetzung von Forschungsdisziplinen wird immer wichtiger: Wir brauchen interdisziplinäre Gruppen von Akteuren, die sowohl in der Forschung als auch in der Behandlung zusammenkommen. Wer nicht vernetzen kann, ist oft im Nachteil. Zusammen müssen wir schlauer sein als Krebs und das ist nicht so schwer. Krebs ist eine Erkrankung, die einfachen evolutionären Prinzipien folgt. Das heißt, er reagiert immer auf eine bestimmte Veränderung. Wir haben also schon eine große Waffe: Krebs kann nicht denken. Er mag intelligent sein im Sinne von Anpassungsfähigkeit. Wie jeder Organismus passt er sich unter Selektionsdruck an. Daraus entstehen dann neue Formen, die wiederum mit der Umgebung anders kommunizieren. Es sind also immer Veränderungen auf zellulärer oder molekularer Ebene. Aber Krebs hat letztlich keine umfassende Strategie, die mit der eigentlichen Intelligenz zu tun hat, wie wir Menschen sie verstehen. Gerade durch KI und die Verarbeitung großer Datenmengen werden wir den Gesetzmäßigkeiten des Krebswachstums auf die Schliche kommen und ein Verständnis von Krebs erlangen, das ihn in die Knie zwingen kann.
Herr Prof. Hallek, wir bedanken uns herzlich bei Ihnen für Ihre Zeit und die wertvollen Einblicke, die Sie uns im Interview gewährt haben.