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Der Film ihres Lebens – ein Schatz an Erinnerungen

37.000 der jährlich neu an Krebs Erkrankten sind Eltern mit minderjährigen Kindern. Die Ulmer Schatzkiste ermöglicht es den Palliativpatienten unter ihnen, ihren Kleinen eine lebhafte Erinnerung zu hinterlassen.

„Werden sich meine kleinen Kinder an mich erinnern?“, wurde Dr. Sarah Krämer als Ärztin von einer todkranken Krebspatientin gefragt. „Nein“, war ihre ehrliche Antwort darauf.

Das menschliche autobiografische Gedächtnis kann Erinnerungen bis zum Ende des dritten Lebensjahres nicht dauerhaft speichern. Erinnerungen an ihre früh verstorbenen Eltern im Gedächtnis zu behalten, ist kleinen Kindern daher fast unmöglich.

Dr. Krämer ließ die Frage, ob und wie Erinnerungen gerade für noch sehr junge Hinterbliebene erhalten werden könnten, nicht mehr los. Gemeinsam mit ihrem Chef Dr. Klaus Hönig, psychologischer Psychotherapeut in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, beschäftigte sie sich mit dem Konzept der Würdezentrierten Therapie („dignity therapy“) für Palliativpatienten. Dabei setzen sich Menschen mit nicht heilbaren, weit fortgeschrittenen Erkrankungen mit begrenzter Lebenserwartung anhand eines Fragenkatalogs mit ihrem eigenen Leben sowie der eigenen Endlichkeit auseinander: Erfolge, Rückschläge, Gefühle, wichtige und prägende Erkenntnisse werden reflektiert und auch für Hinterbliebene aufgezeichnet.

Frau Dr. Sarah Krämer und Herr Dr. Klaus Hönig. Ulmer Schatzkiste Artikelbild
Sie haben die Ulmer Schatzkiste ins Leben gerufen: Frau Dr. Sarah Krämer und Herr Dr. Klaus Hönig. © Nina Eisele, Photo Chatoyer

Krämer und Hönig wollten dieser Form der Lebensbilanz mehr Aspekte der jeweiligen Persönlichkeit der Patientin oder des Patienten hinzufügen, der rein schriftlichen Aufzeichnung ein Gesicht und eine Stimme geben: das Lachen, bestimmte Gesten, Blicke, Ausdrucksweisen – all das, was uns als Menschen einzigartig und gerade für Kinder unterscheidbar macht. So kamen sie auf die Idee der filmischen Porträts.

Wie wird eine Patientin oder ein Patient von Ihnen auf den Filmdreh vorbereitet?
Dr. S. Krämer: Im Erstkontakt muss ich zunächst entscheiden, ob die Person einen Dreh gesundheitlich durchstehen kann. Wo lebt die Person, ist sie reisefähig? Kann sie oder er sich lange genug konzentrieren und ausreichend artikulieren?
Wir sind kein journalistisches Angebot, sondern bieten eine therapeutische Intervention an. Daher bereiten wir den Dreh mit den Patientinnen und Patienten in mindestens zwei bis drei psychoonkologischen Sitzungen sehr sorgfältig vor. Es geht darum, die vielen Emotionen, Ängste und Themen zu sortieren und gemeinsam herauszufiltern, welche Botschaften der Person für ihre oder seine Kinder am wichtigsten sind.

Welche Eigenschaften braucht man als Patientin oder Patient für diese Art Aufarbeitung?
Dr. S. Krämer: Mut. Es braucht etwas Mut, dem eigenen Schicksal und allen Konsequenzen ins Auge zu sehen. Ich muss die Kraft aufbringen können, mich offen der Tatsache zu stellen, dass ich bald nicht mehr da sein werde, dass alles ohne mich weitergehen wird, dass ich meine Partnerin/meinen Partner mit meinen Kindern allein zurücklassen werde. Und ich muss all das auch aussprechen können. Aber, und das ist wesentlich, niemand geht diesen Weg alleine. Wir begleiten unsere Patientinnen und Patienten behutsam und unterstützen sie professionell mit unserer Erfahrung.

Wie verändern die Vorbereitung und dann der Dreh die Patientinnen und Patienten?
Dr. S. Krämer: In der Vorbereitung werden viele schöne Erinnerungen gesammelt. Das können zum Beispiel tolle Erlebnisse, Erkenntnis oder auch vergangene Bewältigungserfolge in schwierigen Zeiten sein. Auch das eigene näher gerückte Lebensende wird dabei in den Blick genommen. Hiervon ist die beeindruckendste Veränderung zu erwarten. Gerade durch den unverstellten Blick auf das eigene Ende können wir uns unserer wahren, wirklich wichtigen Werte und Bedürfnisse bewusstwerden, und diese Erkenntnisse nutzen, um unsere weiteren Lebens- und Behandlungsentscheidungen so zu treffen, dass das Wichtigste für uns nicht hinten runterfällt und die eigene Würde möglichst gut gewahrt bleibt. Auch der Dreh selbst mutet strapaziös an. Die meisten Menschen haben nie vor einer Kamera gesessen, sind zunächst aufgeregt, müssen sich aber dennoch fokussieren. Glücklicherweise haben wir in unserem multiprofessionellen Team bereits reichlich Erfahrung gesammelt und sehen uns absolut in der Lage, unsere Patientinnen und Patienten gut aufzufangen, sodass sie, trotz aller Anstrengung, auch die einzigartige Atmosphäre unseres Drehorts, die Aufmerksamkeit des Teams für ihre Geschichte, das Styling unserer Friseurinnen und Friseure und das leckere Catering am Set genießen können. Nach dem Dreh gingen bisher alle sehr euphorisch mit dem guten Gefühl, einen wundervollen, besonderen Tag erlebt und so vieles für ihre Kinder hinterlassen zu haben, erleichtert und begeistert nach Hause.

... und wie verändern sich Patienten aus wissenschaftlicher Perspektive?
Dr. K. Hönig: Um unsere Arbeit auch wissenschaftlich auszuwerten, wird sie durch eine Machbarkeitsstudie begleitet. Wir arbeiten dabei mit einer Messwiederholungsanalyse. Zu vier Messzeitpunkten erheben wir anhand jeweils gleichbleibender Fragen den emotionalen Zustand der Patientin beziehungsweise des Patienten: einmal vor Beginn der Zusammenarbeit, am Drehtag selbst, eine Woche nach dem Dreh. Und dann noch einmal, nachdem sie oder er den Film erhalten hat. Was wir bisher daran ablesen können, ist, dass sich die emotionale Verfassung der Patientinnen und Patienten im Verlaufe unserer Begleitung verbessert. Sie sind stolz darauf, dass sie es geschafft haben, ihre Lage zu ordnen, wichtige Dinge auch mit sich selbst zu klären und dass sie ihren Kindern etwas Wichtiges hinterlassen können.

Was wissen Sie über den Umgang der Hinterbliebenen mit ihrer Schatzkiste?
Dr. S. Krämer: Wir bekommen nicht allzu viele Rückmeldungen, aber wenn, dann nur positive.
Hinterbliebene berichten uns, dass sie den Film mit ihren Kindern schauen, wenn diese sich einsam fühlen, oder in schwierigen Momenten, wenn man den Rat der Mama oder des Papas bräuchte. Oft hilft es ihnen, das verstorbene Elternteil sehen und hören zu können.

Wie verändert diese Arbeit Ihren Blick auf Ihr eigenes, gesundes Leben?
Dr. K. Hönig: Ich empfinde vor allem Dankbarkeit für meine Gesundheit und die meiner Familie. Es könnte auch sein, dass ich insgesamt etwas gelassener geworden bin, weil auch ich mir manchmal bewusster werde, was mir wirklich wichtig ist. Der einzelne schöne Moment wird wieder wichtiger.

Das Projekt „Ulmer Schatzkiste“ ist als therapeutisches Angebot an der Universitätsklinik Ulm angesiedelt, die Realisierung der Filmdrehs ist jedoch vornehmlich durch Spenden und durch ehrenamtliches Engagement vieler Beteiligter (Kamera/Videografen, Stylisten, Fotografen, Marketing, juristische Beratung etc.) möglich.

Kontakt

Sie erreichen die Ulmer Schatzkiste per Mail an ulmer.schatzkiste@uniklinik-ulm.de, über die Homepage und den Instagram-Account.

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