Onkolytische Viren: Trojanische Pferde gegen Krebs
Viren können Krebs verursachen. Doch sie können Krebs auch bekämpfen – das ist weniger bekannt. So genannte onkolytische Viren werden für die ImmunoVIROtherapie 2.0 weiterentwickelt. Ein Überblick zum Stand von Forschung und Anwendung.
Viren können Krebs verursachen. Doch sie können Krebs auch bekämpfen – das ist weniger bekannt. So genannte onkolytische Viren werden für die ImmunoVIROtherapie 2.0 weiterentwickelt. Ein Überblick zum Stand von Forschung und Anwendung.
Viren: Krebserreger oder -bekämpfer?
Eine Krankheit mit Krankheitserregern bekämpfen? Klingt nach Phantasterei! Es funktioniert aber im Fall von onkolytischen Viren tatsächlich. Das sind Viren, die Krebszellen infizieren, sich in ihnen vermehren und sie zerstören können.
Prof. Guy Ungerechts ist medizinischer Onkologe am Uniklinikum Heidelberg und verantwortlich für die klinische Studieneinheit (Early Clinical Trial Unit) am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Als Leiter der Klinischen Kooperationseinheit Virotherapie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist er Experte für die Behandlung von Krebserkrankungen mittels Viren. Prof. Ungerechts ist überzeugt: „Metastasierter Krebs ist eine systemische Erkrankung, die kann man aus meiner Sicht auch nur systemisch behandeln. Dafür eignet sich die Virotherapie. Sie hat das Potential, sich in den nächsten Jahren in der Immunonkologie zu etablieren.“
Das Prinzip von onkolytischen Viren
Das entscheidende Talent von Viren ist es, in Zellen einzudringen und sich in ihnen zu vermehren. Einige Virusarten scheinen besonders effektiv an Krebszellen zu binden, da diese genau passende Bindungsstellen aufweisen. Außerdem können sie sich in Krebszellen besonders gut vermehren, weil diese in der Regel Schwachstellen in der Virusbekämpfung aufweisen.
Die Viren greifen den Krebs auf zwei Wegen an. Erstens: Die infizierte Krebszelle vermehrt das Viruserbgut und produziert so viele Tochterviren, dass die Krebszelle zerstört wird. Die freigesetzten Viren können nun weitere Krebszellen infizieren und das Spiel beginnt von Neuem – bis möglichst viele Tumorzellen zerstört sind.
Zweitens: Die Tumorzellen senden im Todeskampf bestimmte Botenstoffe aus, die in der unmittelbaren Tumorumgebung (dem „Tumor-Mikromilieu“) eine Entzündung hervorrufen. Dadurch werden körpereigene Immunzellen angelockt, die die Krebszellen bekämpfen und ein Immungedächtnis ausbilden, das die Tumorzellen auch später noch als feindlich erkennt.
Virotherapie der zweiten Generation
Damit das Immunystem die Krebszellen möglichst effektiv angreift, wird die zweite Generation der Virotherapie mittels Gentechnik „aufgepimpt“. Meist baut man in das Viruserbgut Gene für Proteine ein, die auf verschiedene Arten zum Abtöten von Krebszellen beitragen. Die zusätzlichen Gene werden mit dem Virus in die Krebszelle eingeschleust, dort ausgelesen und die Zelle produziert letztendlich selbst die für sie tödlichen Proteine.
Die Viren fungieren quasi als trojanische Pferde. Sie sind zudem so verändert, dass sie nicht mehr die ursprüngliche Krankheit (z. B. Masern) übertragen.
Möglichkeiten, Viren mittels Gentechnik zu optimieren
Unter anderem können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Viren gezielt mit Bindungsstellen für Proteine ausstatten („Targeting“), die auf der Oberfläche von Tumorzellen, aber gleichzeitig möglichst wenig auf gesunden Zellen vorkommen. Das soll sicherstellen, dass die Viren vor allem an Krebszellen andocken und diese so infizieren und zerstören.
Beim „Stealthing“ versieht man die Viren vor ihrem Einsatz mit Tarnkappen, sodass das Immunsystem sie nicht erkennt. Denn über die Jahrmillionen, in denen Menschen mit Viren als Krankheitserregern zu tun hatten, hat unsere Abwehr gelernt, sie zu erkennen und greift sie direkt an. Bleiben sie jedoch unter dem Deckmantel, bauen die Immunzellen die krebstötenden Viren nicht sofort ab und sie können unbehelligt in die Krebszellen gelangen.
„Arming“ nennen es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wenn sie den Viren mittels Gentechnik neue Gene und somit neue Fähigkeiten hinzufügen, damit diese die Tumorzellen noch besser angreifen können. Die Viren werden dann als so genannte Gentaxis genutzt, die Gene in Zellen des Tumormikromilieus einbringen und es so verändern können, dass am Ende eine effektive Immunantwort des Körpers gegen den Tumor möglich wird. Das Virus macht aus einem „kalten“ (für das Immunsystem unsichtbaren) Tumor einen „heißen“ — dieser ist dann für das Immunsystem besonders gut sichtbar.
Die bisher einzige in den USA und Europa zugelassene Virotherapie basiert auf einem Herpes-Virus. Sie wurde im Jahr 2015 gegen Schwarzen Hautkrebs zugelassen.
Welche Perspektiven gibt es?
Ungerechts sieht die Zukunft vor allem in der Kombinationstherapie, denn höchstwahrscheinlich wird die onkolytische Virotherapie allein den Krebs nicht komplett zurückdrängen können. So können zum Beispiel die bereits etablierten Immuntherapien wie Immuncheckpoint-Inhibitoren oder die CAR-T-Zell-Therapie mit den onkolytischen Viren kombiniert werden. Dabei werden die CAR-T-Zellen mit den onkolytischen Viren gekoppelt oder infiziert. Am Ziel - dem Tumor - angekommen, kämpfen sowohl Viren als auch CAR-T-Zellen gegen die Krebszellen.
Diese Ansätze befinden sich derzeit noch in der Entwicklung. Ungerechts und andere Forschungsgruppen arbeiten aktuell an Kombinationstherapien mit onkolytischen Viren.
Unabhängig davon, welcher Ansatz sich bewährt, der Wissenschaftler und Arzt Guy Ungerechts arbeitet auf ein Ziel hin: „Die zweite Generation wird hoffentlich noch deutlich wirksamer als die 2015 zugelassenen Medikamente auf Herpesvirusbasis.“