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OneNCT: Gebündelte Expertise für seltene Krebserkrankungen

Erstmals seit seiner Erweiterung startet am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) eine alle sechs Standorte übergreifende Studie. Wir sprachen mit Prof. Hanno Glimm über die Chancen, die das für Menschen mit seltenen Krebserkrankungen eröffnet. 

Herr Prof. Glimm, Sie leiten gemeinsam mit Prof. Stefan Fröhling und Prof. Richard Schlenk die „RATIONALE“-Studie, in der Menschen mit seltenen Krebserkrankungen individualisiert behandelt werden sollen. Wo liegen die Herausforderungen?

Prof. Glimm: Seltene Krebserkrankungen werden häufig erst spät diagnostiziert und sind schwer behandelbar, da sie weniger erforscht sind. Die geringe Anzahl an Betroffenen erschwert klinische Studien und die Industrie zeigt wenig Interesse, da sich die Kosten durch die geringe Nachfrage nicht amortisieren. Dies führt zu schlechteren Überlebenschancen im Vergleich zu häufigeren Krebserkrankungen. Unsere wissenschaftsgetriebene, nicht-industrielle Studie soll diese Lücke schließen.

Welche Vorteile bietet das erweiterte OneNCT für die Studie?

Prof. Glimm: Die Erweiterung des NCT auf sechs Standorte ermöglicht es uns, Know-how und Mittel zu bündeln. Koordination und Durchführung sind bei großen Studien aus der Akademie heraus eine Herausforderung. Durch das breit aufgestellte Netzwerk können wir genügend Patientinnen und Patienten ansprechen, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Das NCT stellt zudem die notwendigen Strukturen und Ressourcen, damit Expertisen und organisatorische Kräfte mobilisiert sowie logistische Fragen gelöst werden.

Sechs Standorte = OneNCT 

Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) wurde 2004 von zwei Dekadenpartnern, dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und der Deutschen Krebshilfe (DKH), in Heidelberg gegründet. 2015 folgte der Aufbau eines Partnerstandorts in Dresden.

Im Rahmen der Nationalen Dekade gegen Krebs wurden vier weitere exzellente Einrichtungen eingegliedert: Kliniken in Berlin, SüdWest (Tübingen-Stuttgart/Ulm), WERA (Würzburg mit den Partnern Erlangen, Regensburg und Augsburg) und West (Essen/Köln).

Alle Standorte des OneNCT arbeiten eng zusammen und machen damit Spitzenversorgung und translationale Forschung flächendeckend über Deutschland hinweg verfügbar.

Warum ist eine Studie für seltene Krebserkrankungen notwendig, obwohl weniger als sechs von 100.000 Personen von der jeweiligen Krebserkrankung pro Jahr betroffen sind?

Prof. Glimm: Obwohl jede einzelne dieser Krebsarten nur wenige Menschen betrifft, machen alle seltenen Krebserkrankungen zusammen etwa ein Viertel aller Krebsfälle aus. Wir wollen für diese bislang vernachlässigte Patientengruppe bessere Behandlungsmöglichkeiten entwickeln und die Überlebenszeit verbessern.

Wer kann an Ihrer Studie, RATIONALE, teilnehmen? Wie unterscheidet sich die Art der Behandlung von einer Standardtherapie?

Prof. Glimm: An der Studie können Erwachsene mit fortgeschrittenen, seltenen, soliden Tumoren teilnehmen. Solide Tumore sind Krebsformen, die – im Gegensatz zu Blutkrebs – eine feste Tumormasse bilden. Die Behandlung basiert auf einer umfassenden molekularen Analyse der Tumorzellen, die eine maßgeschneiderte Therapie ermöglicht. Standardtherapien sind häufig auf das Organ ausgerichtet, in dem der Tumor sitzt. Individualisierte Therapien werden hingegen auf die spezifischen genetischen und molekularen Eigenschaften des Tumors zugeschnitten – unabhängig davon, wo dieser im Körper lokalisiert ist. Das ist gerade für fortgeschrittene seltene Krebserkrankungen eine wichtige Option, da man in der Situation häufig sehr wenig andere Möglichkeiten hat.

Sie gehen davon aus, dass eine an den einzelnen Erkrankten ausgerichtete Therapie die Zeit bis zum Krankheitsfortschritt verdoppeln kann. Warum wird derzeit nicht allen Betroffenen eine individualisierte Therapie angeboten?

Prof. Glimm: Es gibt zwei Hauptgründe. Erstens ist die umfassende molekulare Analyse, die für eine individualisierte Therapie notwendig ist, derzeit nicht Teil der Regelversorgung und wird daher nicht flächendeckend finanziert. Zweitens ist die Zulassung vieler Medikamente heute noch auf einzelne Krebsarten beschränkt. Doch was für Brust- oder Lungenkrebs zugelassen ist, kann auch bei anderen Tumorarten wirken, wenn wir in der molekularen Analyse ähnliche Wachstumsmechanismen finden. Die RATIONALE-Studie soll untermauern, dass die breite Analytik und individuelle Therapie für seltene Krebserkrankungen wertvoll sind. Das unterstützt weitere Verhandlungen mit den Kostenträgern zur Übernahme der Kosten.

Abgebildet ist der schematische Workflow für die Therapieauswahl. Artikelbild RATIONALE
Schematischer Workflow in der Studie RATIONALE: Gewebe- und Blutproben werden molekular analysiert. Anhand der Analyseergebnisse bewertet das interdisziplinäre molekulare Tumorboard – ein Gremium mit umfassenden Expertisen -die Fälle und gibt eine Therapieempfehlung für eine zielgerichtete Medikation. © Dr. Dr. Andreas Mock / NCT (created with BioRender)

In der Nationalen Dekade gegen Krebs wird die Patientenbeteiligung in der Forschung gefordert. Wirken an RATIONALE Betroffene mit, um sicherzustellen, dass die Studie ihre Bedürfnisse und Nöte berücksichtigt?

Prof. Glimm: Ja, die Patientenbeteiligung ist ein zentraler Aspekt der Studie. Wir haben von Anfang an erfahrene NCT-Patientenvertretende in die Entwicklung des Studienkonzepts einbezogen. Sie sind an allen Diskussionen und Entscheidungen beteiligt und helfen dabei, sicherzustellen, dass die Studie den Bedürfnissen der Patienten gerecht wird. Der andere Punkt: Wir lernen bei der Patientenbeteiligung, wie wir sie jetzt im NCT leben, eine sehr enge Interaktion mit Betroffenen auf Augenhöhe – das ist eine ganz neue Qualität.

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