Dem genetischen Fingerabdruck von Krebs auf der Spur
Im Rahmen des Modellvorhabens Genomsequenzierung werden fünf Jahre lang Menschen mit seltenen und onkologischen Erkrankungen genetisch getestet. Die Gen-Daten sind auch ein Schatz für die Forschung und werden zukünftigen Betroffenen zugutekommen.
Als Bärbel Söhlke im Jahr 2008 die Diagnose „metastasierter Lungenkrebs“ erhielt, gab es für sie kaum Behandlungsoptionen. Entsprechend schlecht war die Prognose — die meisten Erkrankten in ihrer Situation überlebten statistisch gesehen weniger als ein Jahr lang. Über die Selbsthilfe erfuhr sie von einer Chance: die Aufschlüsselung ihrer Tumor-DNA. Dabei wird Tumorgewebe entnommen und auf genetische Veränderungen hin untersucht, die für das Krebswachstum verantwortlich sind. Werden solche gefunden, können Ärztinnen und Ärzte prüfen, ob es bereits Medikamente dagegen gibt, die eine zielgerichtete Therapie erlauben.
Was haben Gene mit Krebs und neuen Therapieformen zu tun?
Täglich entstehen in unserem Körper genetische Veränderungen, sogenannte Mutationen. Die meisten werden vom Körper repariert, andere bleiben folgenlos. Doch manche können dazu führen, dass die Zelle zu viele wachstumsfördernde oder zu wenig hemmende Proteine produziert. Dadurch kann sie uferlos wachsen und wird zur Krebszelle. Dafür verantwortliche Mutationen nennt man „Treibermutationen“, da sie den Krebs antreiben.
Genau hier setzen neue, zielgerichtete Therapieformen an. Hat man die krebstreibenden Mutationen gefunden, kann man daraus die fehlerhaft produzierten Proteine ableiten. Inzwischen gibt es immer mehr Wirkstoffe, die gezielt einzelne Proteine hemmen können. Damit lässt sich das Krebswachstum zum Teil lange Zeit aufhalten.
Zielgerichtete Therapieformen setzen Gendiagnose voraus
In der Praxis wird bei den Patientinnen und Patienten nach einzelnen, bereits bekannten Krebsmutationen gesucht – Fachleute sprechen von „Panel“-Diagnostik. Panel bedeutet, dass gezielt nach einer vorher festgelegten Auswahl von genetischen Veränderungen gesucht wird. Das wird beispielsweise bei Lungenkrebs- und Brustkrebs- und Prostatakrebs-Erkrankten routinemäßig gemacht, u. a. über das Nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs (nNGM)-Programm. Genauso bei familiär vererbbarem Krebs, denn auch hier spielen die Gene eine große Rolle und werden bei Verdacht im Netzwerk für familiären Brust- und Eierstockkrebs (FBREK) auf Mutationen hin getestet, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Krebserkrankung im Lauf des Lebens führen.
In der Forschung wählt man einen anderen Ansatz
Im Gegensatz zur Panel-Diagnostik schlüsselt eine Genomsequenzierung, wie sie im Projekt gemacht wird, alle vorhandenen Gene und deren Mutationen auf (Erklärung s. Kasten "Was unterscheidet Paneldiagnostik und Genomsequenzierung?"). Denn noch kennt man nicht alle Mutationen, die zu Krebs oder anderen Erkrankungen führen. Sie werden Schritt für Schritt durch Forschung aufgedeckt. Bei Bärbel Söhlke ließ sich damals zunächst keine krankheitsrelevante Mutation nachweisen. Es folgten zunächst mehrere Jahre mit Chemotherapien,sie unterzog sich einer Operation. Erst nach ihrem vierten Rückfall ließ sie über das Nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs (nNGM) noch einmal testen. Nun war der Forschungsstand weiter und es fand sich die Ursache für ihre Erkrankung: eine gerade entdeckte, seltene Mutation. Frau Söhlke konnte dann ein vielversprechendes Medikament zunächst bis zur Zulassung im „Off-Label-Use “ erhalten, das seit nunmehr zwölf Jahren das Wachstum ihres Tumors stoppt.
Datenschatz für die Forschung
Um noch mehr Mutationen und weitere Erbgutveränderungen zu finden, die eine Rolle bei seltenen Erkrankungen und Krebs spielen, will das „Modellvorhaben Genomsequenzierung“ nun bundesweit fünf Jahre lang das Gesamtgenom der Krebszellen von Betroffenen analysieren. Da allein die Komplettsequenzierung einer Tumor-DNA 3,2 Milliarden Bausteine umfasst, wird aus dem Projekt eine riesige Datenmenge hervorgehen.
Sequenzierung: Tumor pürieren, um ihm auf den Grund zu gehen
Zunächst zerkleinert und bearbeitet man die Tumorzellprobe im Labor so, dass das Erbgut im Inneren freigelegt wird. Dieses wird dann untersucht: Bei der Paneldiagnostik gezielt auf bereits bekannte Mutationen, die bei der Krebsart eine Rolle spielen. Bei der genomischen Testung Baustein für Baustein. Finden sich im Genom Mutationen, weiß man jedoch noch nicht, ob diese auch für die Krankheit verantwortlich sind, denn viele Veränderungen im Erbgut bleiben ohne Auswirkungen. Lassen sich aber zum Beispiel Abweichungen bei mehreren Erkrankten mit derselben Krebsart nachweisen, wird deren Beteiligung an der Krankheit wahrscheinlich.
Andersherum sind längst noch nicht alle krankheitsrelevanten Gene und Mutationen entdeckt. Daher ist man auf der Suche nach weiteren, die eine gezielte Therapie möglich machen.
Dieser umfangreiche Gen-Daten-Schatz wird der Krebsforschung zugänglich gemacht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können diesen dann mit leistungsfähigen Rechnern und von ihnen entwickelten Algorithmen nach krankheitsrelevanten Mutationen durchforsten. Das ermöglicht es, seltene genetische Ursachen für Erkrankungen aufzudecken. Die Forschenden wollen die Gen-Daten mit den Patientenakten abgleichen, in denen Universitätskliniken Symptome und Verläufe von Krebspatientinnen und -patienten dokumentieren.
Fortschritt der Genomforschung kommt Betroffenen zugute
Sie hoffen, so möglicherweise auch bei sehr selten auftretenden Erkrankungen eine ursächliche Mutation finden. Man weiß, dass über 70 Prozent der seltenen Erkrankungen genetisch bedingt oder mitbedingt sind. Doch bei vielen Betroffenen ist bisher unklar, warum sie bestimmte Beschwerden haben. Sie könnten erstmals eine Diagnose auf Basis ihrer Genveränderungen erhalten und im besten Fall personalisiert behandelt werden.
Welche Art der Sequenzierung ist „besser“?
Welche Methode für eine Patientin oder einen Patienten besser geeignet sei, müsse man sich gut überlegen, sagt Prof. Jürgen Wolf vom nNGM. Oft habe man in der Praxis nur kleine Probenmengen, dann sei man ohnehin auf die Methode der Panel-Sequenzierung festgelegt. Die Gesamtgenomsequenzierung habe aufgrund der Mehrinformation aber das Potential, das Feld insgesamt voranzubringen. Im Modellvorhaben bekommen Betroffene beides: Zunächst eine Paneldiagnostik, damit sichergestellt ist, dass bei ihnen die heute schon bekannten Mutationen verlässlich erkannt werden. Dann die Gesamtgenom-Testung, die ungenauer ist, aber neue Mutationen aufdecken kann. Finden sich solche, für die es bereits Wirkstoffe gibt, werden die entsprechenden Patientinnen und Patienten informiert und das weitere Vorgehen besprochen. Im Modellprojekt entdeckte neue Genveränderungen werden in die Routine der Panel-Diagnostik aufgenommen, sodass Neu-Patientinnen und -Patienten zukünftig in der Regelversorgung davon profitieren.