Neue Therapien durch „Krebs-Neurowissenschaft“
Seit man entdeckt hat, dass unser Nervensystem gezielt mit Tumoren kommuniziert und sie zum Wachstum antreiben kann, arbeiten Forschende der „Krebs-Neurowissenschaft“ an dort ansetzenden Therapien.
Das Verständnis von Krebs und seiner Behandlung hat sich gewandelt. Hat man früher vorwiegend die Tumorzellen bekämpft, ist heute klar: Ohne sein Umfeld kann der Tumor sich nicht ausbreiten. Denn Tumoren sind nicht einfach nur einzelne, unkontrolliert wachsende Zellen. Stattdessen bilden sie organähnliche Systeme, die eng mit verschiedenen Zellen aus ihrer (direkten) Mikroumgebung zusammenarbeiten.
So wisse man schon länger, „dass der Tumor die Bildung von Blutgefäßen um ihn herum anregt, um sich optimal mit Nährstoffen und Sauerstoff zu versorgen”, erzählt der Neurologe Professor Frank Winkler, dessen Fachgebiet auf Englisch „Cancer Neuroscience“ genannt wird. Bekannt sei auch, dass Krebs Immunzellen manipuliert, um der körpereigenen Abwehr zu entgehen.
Tumorzellen bilden kommunizierende Netzwerke
Neu sei die Erkenntnis, dass Krebszellen und ihre Mikroumgebung von Nervenzellen und weiteren Zelltypen des Nervensystems gesteuert werden, sagt Winkler.
Das wurde zunächst an Hirntumoren nachgewiesen. Forschende in der Arbeitsgruppe von Winkler entdeckten, dass Zellen des Glioblastoms - ein sehr aggressiver und bislang unheilbarer Hirntumor - unreifen Nervenzellen ähneln: Sie bilden Nervenzell-ähnliche Netzwerke, die sich selbst reparieren und sich wie ein Spinnennetz durch das Gehirn ziehen. Das macht es unmöglich, sie zu herauszuoperieren. Die Hirntumorzellen tauschen zudem über Ausstülpungen untereinander wichtige Zellinhalte aus und kommunizieren intensiv – so unterstützen sie sich im Verband gegen therapeutische Angriffe.
Kommunikation ist alles: Synapsen zwischen Nerven- und Tumorzellen
Weitere Untersuchungen zeigten synaptische Verbindungen zwischen Nerven- und Glioblastomzellen. Diese engen Zell-Zell-Kontakte kennt man sonst nur von Nervenzellen untereinander. Bei einer synaptischen Verbindung streckt eine Nervenzelle ein langes „Ärmchen“ ganz nah an die andere Zelle heran und gibt Botenstoffe an sie ab, die wie Befehle wirken. Die Nervenzelle ist dabei der Sender, die Tumorzelle empfängt. Ein Befehl der Nervenzellen kann „Produziere viele Tochterzellen!“ lauten, und ein anderer dafür sorgen, dass der Krebs die Gewebegrenzen überschreitet oder Tochtergeschwülste aussendet. Diese Eigenheiten sind höchstwahrscheinlich der Grund, warum Glioblastome und bestimmte andere Hirntumorarten so aggressiv wachsen und nicht heilbar sind.
Inzwischen ist bei weiteren großen Tumorarten außerhalb des Gehirns nachgewiesen, dass sie durch das Nervensystem beeinflusst werden, meist in ihrem Wachstum und ihrer Aggressivität.
Die Stimulation des Krebswachstums kann je nach Krebsart unterschiedlich aussehen. Die Nervenzellen können u.a. elektrische Impulse oder Botenstoffe aussenden, um die Tumorzellen zum Wachstum anzutreiben. Auch der Tumor selbst kann Nervensystem-ähnliche Eigenschaften ausbilden. Bestimmte Glioblastomzellen fungieren zum Beispiel als rhythmisch aktive Schrittmacher innerhalb des Tumorzellnetzwerks, die ständig die Tumorzellen stimulieren. Sie ähneln dabei bestimmten unreifen Nervenzellen während der frühen Entwicklung.
Lockstoffe für Nervenzellen
Die Ausbildung der ihm nützlichen Nervenstruktur um sich herum kann der Tumor auch selbst in Gang setzen. Dafür schüttet er verschiedene Lockstoffe aus, die Nervenzellen anlocken oder in einem für ihn nützlichen Sinne verändern. Auch Begleitzellen von Nervenzellen, die diese stützen und ernähren, werden in das sich ausbildende Netzwerk integriert.
Noch viele offene Fragen
Jede weitere Erkenntnis trägt dazu bei, mögliche Achillesfersen dieser Netzwerke offenzulegen. „Wenn man weiß, wie genau Nerven- und Krebszellen miteinander kommunizieren, kann man versuchen, dies zu hemmen. Das kann durch bereits zugelassene oder noch zu entwickelnde Arzneimittel geschehen, aber auch durch viele andere Methoden. Im Tiermodell lässt sich so das Tumorwachstum eindämmen“, erklärt Professor Winkler die damit verbundenen Chancen.
Während im Gehirn das zentrale Nervensystem sitzt, sind es im restlichen Körper zwei Gegenspieler: das aktivierende, sympathische Nervensystem und das parasympathische, das eher hemmt. Diese haben ebenfalls Einfluss auf Krebszellen, und es muss noch besser verstanden werden, welcher Tumor in welchem Stadium von welchem Part des Nervensystems beeinflusst wird.
Hoffnung auf neue Therapieformen
Als Arzt setzt Professor Winkler große Hoffnung auf die Krebs-Neurowissenschaft. Sie könne eine ergänzende Säule der etablierten Krebstherapien und der innovativen Immunonkologie werden. Aus seiner Sicht werden auch Kombinationstherapien zum Fortschritt beitragen: „Wenn wir die Krebs-Nerven-Netzwerke wirksam unterbinden, kann das die bisherigen Therapien effizienter machen. Dafür gibt es bereits viele positive Hinweise aus vorklinischen Studien – jetzt müssen wir zeigen, dass dies auch bei Patienten wirksam sein kann.”
Unter Winklers Beteiligung untersuchen momentan u.a. zwei vom BMBF geförderte klinische Studien an Glioblastomen (s. Weitere Informationen), wie sich die kommunizierenden Tumor-Netzwerke wirksam ausschalten lassen könnten.
Noch ist also einige Forschungsarbeit zu leisten, bis die ersten Anwendungen in die Praxis kommen können.